Das deutsche Gesundheitswesen gilt als eines der besten der Welt – einerseits. Andererseits werden die Leistungsfähigkeit und Effizienz seiner Strukturen, Finanzierungs- und Steuerungsinstrumente, aber auch die Güte seiner gesundheitsbezogenen Ergebnisse immer wieder in Frage gestellt. Zudem steht es vor enormen Herausforderungen, die in Zukunft zu bewältigen sind, sei es der demographische Wandel, die allgemeine Zunahme chronischer und psychischer Krankheiten, die Finanzierbarkeit oder der ungedeckte Fachkräftebedarf.

Verschiedenste Akteure aus Politik, Versorgung, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft streiten daher seit Jahren mit zum Teil bemerkenswerter Vehemenz über die Zukunftsfähigkeit und Reformbedürftigkeit des Gesundheitswesens. Das liegt nicht zuletzt an den unterschiedlichen Zielen, die die einzelnen Akteure verfolgen und die zum Teil in deutlichem Widerspruch zueinanderstehen. Dabei lässt sich insgesamt feststellen, dass das deutsche Gesundheitswesen von Interessenkämpfen, Verteilungskonflikten und ideologisierten Debatten geprägt ist und diese „Kultur des Gegeneinanders“ mit Blick auf soziale Innovationen, also auf neue Praktiken, Organisationsformen, Regulierungen und Systemstrukturen ein Innovationshemmnis darstellt.

ZEIG will dazu beitragen, diese Hemmnisse zu überwinden und abzubauen. Und zwar, indem es:

  1. die Heterogenität und Komplexität der Effekte einer (sozialen) Innovation erfassbar, abbildbar und im Hinblick auf normative Zielgrößen besser analysierbar und diskutierbar macht;
  2. die Bewertungen der Innovationseffekte durch unterschiedliche Akteure transparent und damit Konsens und Dissens leichter identifizierbar macht.

Für die ZEIG-Anwendung in der Praxis gibt es drei zentrale Einsatzfelder: Selbstreflexion, Deliberation und Forschung.

Selbstreflexion

In einem Selbstreflexionskontext mag ZEIG von einem Einzelakteur eingesetzt werden, um die zukünftigen Auswirkungen einer geplanten Maßnahme oder Strategie im Gesundheitswesen besser abschätzen (ex ante) oder die Auswirkungen einer bereits umgesetzten Maßnahme oder Strategie nachträglich bewerten (ex post) zu können. Die Anwendung kann dabei sowohl von einer Einzelperson als auch im Team durchgeführt werden. Im Ergebnis stößt man womöglich auf bislang übersehene negative Effekte, die eine entsprechende Anpassung der Maßnahme oder Strategie anregen, oder auf positive Effekte, die man sich für interne oder externe Zwecke zu Nutze machen kann. Oder es wird klar, an welchen Stellen der aktuelle Wissensstand unzureichend ist, um eine seriöse Beurteilung vorzunehmen.

Deliberation

In einem (gesundheitspolitischen) Deliberationskontext stecken womöglich die größten Potenziale einer ZEIG-Anwendung. Hier kann das Tool in Diskussions- und Aushandlungsprozessen eingesetzt werden, in die verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Interessen eingebunden sind. In einem moderierten Format könnten alle Beteiligten das Tool zunächst einzeln auf die zur Diskussion stehende Innovation oder Maßnahme (I/M) anwenden (ob ex ante oder ex post), um anschließend die einzelnen ZEIG-Bewertungen nebeneinander zu legen und zu vergleichen. Für diesen Zweck gibt es bei ZEIG-Online den Gruppenmodus. Dadurch könnten – womöglich schneller als üblich – gezielt Bereiche identifiziert und differenziert werden, auf die die I/M unstrittig positive oder negative Auswirkungen hat (Konsens), und solche, für die die Bewertungen unterschiedlich ausfallen, also umstritten sind (Dissens). Man hätte dann eine ausgezeichnete Grundlage für anschließende Verhandlungen, weil pauschale Ablehnungen oder Einschätzungen erschwert, Interessenlagen deutlicher sichtbar und die eigentlich strittigen Kernpunkte leichter fassbar werden. Darüber hinaus könnte klarer aufgezeigt werden, an welchen Stellen aufgrund schlechter Datenlage Forschungsbedarf besteht und welche Fragen daher notgedrungen offenbleiben müssen. Im Idealfall könnten damit Prozesse zugleich versachlicht, transparenter und beschleunigt werden.

Forschung

In einem Forschungskontext kann ZEIG als Analyseraster dazu genutzt werden, eine sowohl ganzheitliche als auch solide und belastbare Wissensbasis zu schaffen – entweder für nachträgliche Evaluationen von Innovationen/Maßnahmen (ex post) oder für Abschätzungen der zukünftigen Folgen von Innovationen/Maßnahmen (ex ante) im Gesundheitswesen, ähnlich wie es in den Bereichen Technikfolgenabschätzung (TA) und Gesetzesfolgenabschätzung (GFA) seit langem praktiziert wird. Das Tool würde so einerseits das Forschungsdesign strukturieren und andererseits in der Anwendung dazu beitragen, die eigentlichen Forschungslücken zu identifizieren, also die Stellen, wo die Datenlage insgesamt schlecht ist und entsprechend Forschungsbedarf besteht. Als Interessenten und potenzielle Auftraggeber für derartige Studien kommen prinzipiell alle Akteure im Gesundheitswesen in Frage.

Kombinationen

Natürlich lassen sich die drei Einsatzfelder auch kombinieren. Gerade Forschung ist immer dann eine Option, wenn die Quellen- und Datenlage bei einem Zielfeld als schlecht eingestuft wird, dem Zielfeld aber besondere Bedeutung zukommt. Und für die Akteure, die das Tool in einem Deliberationskontext anwenden, liegt es ohnehin nahe, es gleichzeitig zur Selbstreflexion einzusetzen.

Grundlage und Bezugspunkt des Zielfokussierten Evaluationstools für Innovationen im Gesundheitswesen (ZEIG) sind 12 übergeordnete Ziele im Gesundheitswesen, die im Rahmen einer das deutsche Gesundheitswesen aus Innovationssystemperspektive analysierenden Studie identifiziert worden sind. Diese lief von 2011 bis 2013 und wurde von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Die Studie zur Entwicklung von ZEIG, gefördert 2016 bis 2017 von der Friedrich-Ebert-Stiftung, ist gewissermaßen die Nachfolge-Studie. Beide wurden vom Fraunhofer ISI durchgeführt und von denselben Personen verantwortet.

12 übergeordnete Ziele im Gesundheitswesen

Im Rahmen der ersten Studie wurden unter anderem die (offiziell proklamierten) Ziele zentraler Akteure im Gesundheitswesen erhoben und analysiert. Dazu wurden Selbstbeschreibungen der Akteure wie Internetauftritte, Positionspapiere oder Stellungnahmen gesichtet und im Hinblick auf Ziele untersucht. Außerdem wurden zur Ergebniskontrolle Interviews mit Expert/innen des Gesundheitswesens zu den Zielen einzelner Akteursgruppen und Akteure geführt.

Auf diese Weise sind insgesamt über 80 Akteure auf ihre Ziele hin untersucht worden. Systematisiert ergaben sich daraus über 140 verschiedene Ziele bzw. Zielkategorien. Analysiert wurden daraufhin Zielhäufigkeiten, Zielhierarchien, Zielkonflikte sowie die Akteursbeziehungen im Hinblick auf gemeinsame und konfligierende Ziele. Die Identifizierung von 12 übergeordneten, untereinander nicht weiter subsumierbaren Zielen war ein Ergebnis dieser Zielanalyse.

Die 12 Ziele wurden erstmalig in der Zeitschrift Gesundheits- und Sozialpolitik (Heft 1/2013) veröffentlicht („Innovationspotenziale im Gesundheitswesen – Ergebnisse einer Analyse offizieller Akteursziele“ von Nils B. Heyen und Thomas Reiß).

Die zentralen Ergebnisse der gesamten Studie wurden in einem zweiteiligen Beitrag für die Zeitschrift „Sozialer Fortschritt – German Review of Social Policy“ (Heft 10&11/2014) zusammengefasst, der öffentlich zugänglich ist (Teil 1 und Teil 2; „Das Gesundheitswesen aus Innovationssystemperspektive: Acht Thesen und Handlungsmöglichkeiten“ von Nils B. Heyen und Thomas Reiß).

Das Zielfokussierte Evaluationstool für Innovationen im Gesundheitswesen (ZEIG) ist das Ergebnis einer Studie, die von 2016 bis 2017 von der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert wurde und die explizit die Entwicklung eines solchen Tools zum Ziel hatte. Sie baut auf einer anderen, das deutsche Gesundheitswesen aus Innovationssystemperspektive analysierenden Studie auf, die von 2011 bis 2013 von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde und in deren Rahmen die 12 übergeordneten Ziele im Gesundheitswesen identifiziert worden sind (siehe Abschnitt „Woher kommen die 12 Ziele?“). Beide Studien wurden vom Fraunhofer ISI durchgeführt und von denselben Personen verantwortet.

In einem ersten Schritt (der ZEIG-Studie) wurde das grundlegende Konzept erstellt, die 12 Zielfelder mittels Prüffragen und Indikatoren operationalisiert und somit ein erster Entwurf des Evaluationstools erarbeitet. Dieser wurde dann im weiteren Verlauf der Studie geprüft und validiert.

Das geschah zum einen über eine Befragung ausgewählter Expert/innen, denen je nach Expertise die inhaltlich passenden Zielfelder mit den jeweiligen Prüffragen und Indikatoren vorgelegt wurden. Damit wurde jedes Zielfeld noch einmal von 2 externen Expert/innen auf Stimmigkeit, Lücken und etwaige Mängel kontrolliert.

Zum anderen wurde das Evaluationstool auf insgesamt 6 Fallbeispiele praktisch angewendet. Dabei wurden diese so ausgewählt, dass in einer Vierfeldertafel, in der eine Mikro-Makro-Dimension mit einer Ex-post-/Ex-ante-Dimension gekreuzt wird, alle 4 Felder abgedeckt sind. Die Fallbeispiele, also die Innovationen/Maßnahmen, auf die das Tool exemplarisch angewendet wurde, waren:

  • der neue Gesundheitsberuf des Operationstechnischen Assistenten (Mikro/ex post);
  • Home-Treatment in der psychiatrischen Versorgung (Mikro/ex ante);
  • Entlassmanagement in Krankenhäusern (Makro/ex post);
  • die Substitution ärztlicher Leistungen (Makro/ex ante).

Zusätzlich zu diesen, kleinen Studien ähnelnden, Anwendungen wurde das Tool auch in einem eher diskursiven Verfahren durch den von der Friedrich-Ebert-Stiftung eingesetzten Steuerungskreis auf 2 Treffen praktisch erprobt, und zwar an den Fallbeispielen:

  • Risikostratifizierung bei Diabetes (Mikro/ex ante);
  • monistische Krankenhausfinanzierung (Makro/ex ante).

Entsprechend der Rückmeldungen der Expert/innen und der Erfahrungen mit den exemplarischen Anwendungen wurde das Evaluationstool sukzessive überarbeitet.

Die finalisierte Fassung von ZEIG wie auch die gesamte ZEIG-Studie ist im WISO-Diskurs (Heft 13/2018), dem Publikationsorgan der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, veröffentlicht („ZEIG – ein zielfokussiertes Evaluationstool für Innovationen im Gesundheitswesen“ von Nils B. Heyen, Tanja Bratan, Bärbel Hüsing und Thomas Reiß). Die Publikation, in der auch eine der exemplarischen Anwendungen skizziert wird (Fallbeispiel Entlassmanagement), kann hier heruntergeladen werden.

Befragte Expert/innen

Dr. Siiri Ann Doka, Referatsleiterin Gesundheitspolitik und Selbsthilfeförderung, BAG Selbsthilfe

Prof. Dr. Uwe Fachinger, Fachgebietsleiter Ökonomie und Demographischer Wandel, Universität Vechta

Prof. Dr. Oliver Schöffski, Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement, Universität Erlangen-Nürnberg

Dr. Christof Veit, Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG)

Dr. Bernhard Bührlen, Bereich Qualität und Prozesse, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Expert/innen des Steuerungskreises

Dr. Klaus-Heinrich Dedring, SPD-Parteivorstand/Referat Arbeitsmarkt, Sozial- und Gesundheitspolitik, Berlin

Malte Enderlein, Verband der Ersatzkassen e.V., Referatsleiter, Berlin

Grit Genster, ver.di Bundesvorstand, Bereichsleiterin Gesundheitspolitik, Berlin

Nils Hindersmann, IG Bergbau, Chemie, Energie, Hauptverwaltung/Abt. Sozialpolitik, Hannover

Harald Kuhne, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Leiter Zentralabteilung, Berlin

Knut Lambertin, DGB Bundesvorstand, Gesundheitspolitik/Sozialpolitik, Berlin

Eckehard Linnemann, IG Bergbau, Chemie, Energie, Hauptverwaltung/Abt. Sozialpolitik, Hannover

Dr. Marc Schietinger, Hans-Böckler-Stiftung, Abt. Forschungsförderung, Düsseldorf

Severin Schmidt, Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Wirtschafts- und Sozialpolitik, Bonn

Die von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderte ZEIG-Studie ist im WISO-Diskurs (Heft 13/2018), dem Publikationsorgan der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, veröffentlicht („ZEIG – ein zielfokussiertes Evaluationstool für Innovationen im Gesundheitswesen“ von Nils B. Heyen, Tanja Bratan, Bärbel Hüsing und Thomas Reiß). Zusätzlich zu den unter ZEIG-Online präsentierten Inhalten wird dort auch eine exemplarische Anwendung skizziert.

Die Studie kann hier heruntergeladen werden (kostenlos).

ISBN: 978-3-96250-068-9